Sonntag, 6. September 2015

Perfide!

Es gibt ein Foto von einem kleinen, toten syrischen Jungen am Strand.

Das Foto hat aufgerüttelt und viele Menschen schockiert.

Das problematische an einem solchen Foto ist - jedenfalls für gewisse Kreise - dass es keine Möglichkeit gibt, die Bestürzung und das Mitleid der Menschen über den Tod eines Kindes in ihr Gegenteil zu pervertieren, ohne dabei selbst schlecht auszusehen.

Ein totes Kind... wer will sich schon so weit verrennen, auch hier seine sonst übliche Gülle auszuschütten?

Naja, vielleicht nicht über das Kind.... aber nehmen wir uns doch halt den Vater vor, so denken sich da einige! Also den Mann, der bei der Überfahrt nach Europa seine Frau und seine beiden Kinder verloren hat.

"Geht nicht!", glaubt ihr?

Geht doch!

Indem man die folgenden steilen Behauptungen aufstellt:
"Der Vater hat nur deshalb das Leben seiner Familie aufs Spiel gesetzt, weil er sich in Europa billig neue Zähne machen lassen wollte! 
und
"Der lebte nämlich mit seiner Familie schon seit 3 Jahren in der Türkei und war gar kein Flüchtling."
Ja, ja, diese Behauptungen machen auf gewissen Websites derzeit die Runde (darunter eine, deren Logo bei genauerem Hinsehen ein in zwei Teile zerlegtes Hakenkreuz ist - muss ich mehr sagen?). Und leider wird dieses "Wissen" inzwischen auch von solchen Leuten im Netz in Diskussionen eingestreut, denen ich bisher wenigstens noch ein kleines, restliches Quäntchen Verstand zugetraut hätte.

Lassen wir mal die Logik beiseite, die uns fragen lässt: "Man kann sich in Deutschland oder Österreich billig die Zähne machen lassen?", sondern konzentrieren wir uns auf die "Weisheit" als solches, die hier verbreitet wird.

Also, dann wollen wir uns doch mal ansehen, wie und womit man uns diesen Schwachfug beweisen möchte:

Es gibt ein Interview, welches die in Kanada lebende Schwester des Vaters gegeben hat. Dieses Interview (gegeben bei Sky News) wurde soweit verändert, dass man ihm den Titel
"Syrian boy drowned because his Father wanted new teeth"
vorangestellt hat, Dass dieser Titel nicht von Sky News stammt, versteht sich von selbst.

In diesem Interview erzählt die Schwester von ihren Versuchen, die Familie zu sich nach Kanada zu holen. Man habe kein Geld von Kanada gewollt; nur die Einreiseerlaubnis. Zuerst hatte sie die Anträge jedoch für ihren anderen Bruder und dessen Familie gestellt - es ist immer nur ein "Sponsoring" erlaubt. Sie erzählt davon, wie sie ihrem anderen Bruder Geld schickte, damit er stattdessen die Schlepper für sich und seine Familie Richtung Europa bezahlen konnte. Und sie erwähnt - nebenbei - ihr Bruder habe keine Zähne mehr gehabt, und auch darum habe man sich (finanziell) kümmern wollen, sobald die Familie in Sicherheit sei, aber das, so sagt sie, sei eine andere Geschichte.

Warum sagt man so etwas in einem Interview? Man sagt es genauso, wie auch wir reden würden, wenn uns geliebte Menschen genommen werden - es ist das typische "wir hatten doch noch so vieles vor", das uns in solchen Momenten durch den Kopf geht.

Aber bleiben wir beim Thema - und räumen wir ein für allemal auf mit den Dämlichkeiten.

Hier sind zwei Artikel der BBC, in denen auch Teile des Sky-News-Interviews eingebettet sind:
http://www.bbc.com/news/world-europe-34141716
http://www.bbc.com/news/world-us-canada-34142695

Und hier noch verlinkt ein weiteres Interview mit der Schwester, diesmal geführt von der BBC:
http://www.bbc.com/news/world-europe-34149755

Und ich mache mir jetzt mal den "Spaß", die (für unser Thema) relevanten Informationen der BBC hier auf Deutsch zusammenzufassen:

Als syrische Kurden waren die Chancen der Familie Kurdi auf Asyl in Kanada in dem Moment durchkreuzt, als sie sich auf den Weg in die Türkei machten. Syrien hat seiner kurdischen Bevölkerung seit Jahren die Staatsbürgerschaft verweigert, und Kurden wurden von den Behörden demnach als staatenlos angesehen. Per Anordnung von 2011 wurde ihnen zwar erlaubt, die Staatsbürgerschaft zu beantragen, aber viele konnten die geforderten Bedingungen nicht erfüllen, und viele andere waren zur Flucht gezwungen, ehe sie einen solchen Antrag auch nur hätten einreichen können.

2014 flohen die Kurdis aus Kobane in Richtung Türkei. (Anm.: Ich gehe davon aus, es ist noch im allgemeinen Gedächtnis verhaftet, wie das Schicksal der Kurden in Kobane 2014 aussah?) Dort durften sie zwar bleiben, aber sie erhielten keinen offiziellen Flüchtlingsstatus. Nur Flüchtlinge mit Pass erhielten eine auf ein Jahr begrenzte Aufenthaltserlaubnis und die Erlaubnis, sich im Land frei zu bewegen. Jene ohne Pass mussten in den "Camps" bleiben oder sich als "Illegale" im Land aufhalten. So wie die Kurdis.

Solche Menschen befinden sich in der Türkei in einer Zwickmühle: Sie erhalten keine Ausreisegenehmigung aus der Türkei, weil sie keinen Pass haben. Und sie erhalten nirgends Asyl, weil sie keine Ausreisegenehmigung aus der Türkei haben.

Das ist die Situation, in der auch der andere Bruder mit seiner Familie sich befand - weshalb der Asylantrag, den seine Schwester für ihn gestellt hatte, abgelehnt wurde. So wusste man also, wie die Aussichten für den zweiten Bruder sein würden.

Und so begab sich die Familie stattdessen in die Hände von Schleppern, Richtung Europa, finanziert von der Schwester.


Auch schreibt die BBC hier, der Vater sei vor der Flucht in Syrien, in Kobane, vom IS gefoltert worden, und dabei habe man ihm alle Zähne ausgeschlagen. Kann man das glauben? Nun ja, einerseits weiß ich, dass diese Art Folter bei der IS recht beliebt zu sein scheint - auch christliche Priester kamen dort schon in den Genuss einer solchen "Zahnbehandlung". Andererseits verweise ich auf alles Bild-, Video- und anderes Material, das uns (leider) inzwischen über die Methoden der IS-Tiere vorliegen - gibt es wirklich jemanden, der allen Ernstes noch behaupten würde "sowas tun die nicht!"?

Mit einem Wort zusammengefasst, ist das, was hier gerade abläuft, nur so zu beschreiben:

PERFIDE!

Schämt euch, ihr Volksverhetzer!

2 Kommentare:

  1. Leider werden die Leute, die solche widerwärtigen Lügen verbreiten, sich nicht schämen. Darüber sind sie hinaus (es sei denn, sie kehren wirklich um, was wir nicht in der Hand haben).
    Trotzdem ist es richtig und wichtig, darüber aufzuklären. Danke.

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  2. Ein toller und wichtiger Beitrag, liebe Heike! Aufmerksam gemacht wurde ich darauf durch Felix Honekamp, der in seinem Blog Dich zitiert hat und fragt: "Darf man das Bild von Ailan Kurdi zeigen? Und darf man in einer Welt, in der ein kleiner Junge tot am Strand liegt, das Bild eines unbeschwerten Jungen zeigen?" Dieser Junge ist sein Sohn, der am Strand von Langeroog einen Drachen steigen lässst. Ich denke, mein Kommentar dazu passt auch zu Deinem Blogbeitrag. Ich schrieb:
    "In meinem Bild vom Himmel spielt Ailan auch gerade im Herbstwind mit einem Drachen am Strand."
    In meinem auch, Herr Honekamp! Wie könnte es auch anders sein bei diesem Kind, das buchstäblich zum "Zeichen geworden ist, dem widersprochen wird"?
    Und Ihr kleiner Sohn, der große Drachenkünstler? Möge er zum Botschafter für die Kinder der Welt werden für ein Zuhause voller Licht und Freude und für das Entdecken von zweckfrei-schönem Spiel! Wie könnte er das aber, wenn er dies nicht in FÜLLE in der eigenen wunderbaren Familie erlebt hätte? Nie wird er dabei die Augen davor verschließen können. dass wir "in einer gebrochenen Welt mit dem Leiden leben lernen müssen". Deo gratias!"

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