Samstag, 22. April 2017

F*ck you, Whataboutism!

Schon mal gehört, den Ausdruck "Whataboutism"?

Ein noch ziemlich neues Wort für etwas, das, obzwar nicht neu und in der Politik seit Jahrzehnten altbewährt, erst seit einer Weile als Totschläger in jeder Diskussionsrunde eher früher als später auftaucht.

"Whataboutism" ist die Relativierung schlechthin, ein echter Killer.

Die erste Begegnung haben viele von uns in der Kinderzeit gemacht:

Wir so: "Bäh, schon wieder Brokkoli! Das ess' ich nicht!"
Die Mutter so: "Und was ist mit den hungernden Kindern in Afrika, die froh wären, wenn sie überhaupt etwas zu essen hätten?"

Und damit waren wir beim Mitleid mit den hungernden Kindern Afrikas, und jegliche Diskussion darüber, ob es nicht doch ein anderes Gemüse zum Abendessen hätte sein können, verbot sich von selbst.

Klar, eines Tages ist uns aufgegangen, dass die hungernden Kinder in Afrika weder Vor- noch Nachteil davon hatten, ob wir unseren Brokkoli nun gegessen haben oder nicht. Und damit war das Thema - im wahrsten Wortsinne - vom Tisch.

Seit einer Weile aber ist der Brokkoli zurück, in Form eines sich gebetsmühlenartig in jeder Diskussion wiederholenden
"Und was ist mit....?"

(Auf Englisch: "And what about...?" - daher eben der Begriff "Whataboutism".)
Gerade erst bin ich wieder in einer Diskussion darauf gestoßen:

Man hatte jenen Ausschnitt der Tagesschau verlinkt, in dem Sonia Mikich vor vier Tagen einen Kommentar zur von vielen "Deutschtürken" bejahten geplanten Wiedereinführung der Todesstrafe in der Türkei abgab. Eine - kurze - Weile war die Diskussion im Thema. Man "stritt" über den Wahlausgang, über Deutschland und sein Verhältnis zum türkischen Diktator, und man verurteilte die Todesstrafe.

Dann schlug der Whataboutism erbarmungslos zu:
"Und was ist mit den USA?"
"Und was ist mit Deutschland, mit Hessen?" [sic]
Schließlich gäbe es auch dort die Todesstrafe, und solange Deutschland dies gut heiße...

Und von diesem Momant an konnte man trefflich diskutieren:
- darüber, dass Deutschland die in einigen US-Bundesstaaten bestehende Todesstrafe keineswegs gut heißt,
- darüber, dass Deutschland diese im Gegenteil auch dort verurteilt,
- darüber, dass Deutschland die Todesstrafe generell ablehnt, ganz gleich, in welchem Land sie angewendet wird,
- darüber, dass in den USA Aktivisten seit Jahrzehnten versuchen, die Todesstrafe abzuschaffen, während sie in der Türkei gerade wieder frisch eingeführt werden soll,
- darüber, dass in Hessen die Todesstrafe zwar noch in der Landesverfassung steht, und warum das so ist, dass sie aber dank des Grundgesetzes niemals Anwendung finden könnte,
- usw... usw... usw...
Plötzlich redet kein Mensch mehr über Brokkoli... äh... will sagen, über Erdowahn und seine Pläne mit der Türkei (und eventuell unwilligen Bürgern). Die Diskussion verliert das eigentliche Thema völlig aus den Augen.

So kann man jede bisher noch so sachlich geführte Diskussion im Handstreich ad absurdum führen:
"Katzenhaare rufen bei Allergikern leider oft schwere Asthmaanfälle hervor."
"Und was ist mit Hunden, die die ganze Nacht durch bellen?"

"Es ist schrecklich, wie viele Christen derzeit weltweit unter Verfolgung leiden müssen."
"Und was ist mit den Kreuzzügen?"
Ihr merkt, was hier passiert, oder?

A prangert Missstand A an.
B kontert mit der Nennung von Missstand B, um so die Kritik von A zu relativieren:
Wegen Missstand B gibt es kein Recht, Missstand A anzuprangern.

Natürlich wird dem einen oder anderen schnell klar: Bei genauerem Hinsehen bedingen Missstand A und Missstand B einander überhaupt nicht. Ein Negativ wird nicht aufgehoben oder auch nur relativiert durch die Existenz eines zweiten Negativs, das sich auf einer anderen Zeit-, Orts- und/oder Situationsebene befindet.

Aber es ist zu spät:

Von jetzt an dreht sich die Diskussion
b) um die eigene Rechtfertigung, Missstand A trotz Missstand B anprangern zu dürfen
c) um Missstand B selbst
d) um die Versuche, den Whataboutism und seinen tödlichen Einfluss auf die Diskussion aufzuzeigen

Wer aufmerksam gelesen hat, der wird jetzt rufen:
"Hey, du hast deine Aufzählung bei b) begonnen - wo ist a) ?"

Nun ja, a) ist der Teil der Diskussion, der nicht mehr stattfindet:

Die Diskussion um Missstand A, um den es eigentlich ausschließlich hätte gehen sollen.

Diese Diskussion ist tot.

Und darum:

F*ck you, Whataboutism!

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